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Ein Kommentar von Norbert Bowe zur Veröffentlichung des Textes von Manfred Lütz : ‚Wartezeiten auf einen Therapieplatz: Wie ein Lobbyverband psychisch Kranken schadet‘

Man könnte diese ausgefallene Meinungsäußerung eines Einzelnen auf sich beruhen lassen, wäre da nicht eine hochgespannte politische Situation mit einem sehr aktiven Gesundheitsminister, der sich gegenüber diversen Einflüssen bereits als empfänglich erwiesen hat. Und auf seine Aufmerksamkeit ist dieser heftige Angriff gemünzt. Deshalb erscheint es sinnvoll, auf die Fallstricke dieser mit enormem Impetus vorgetragenen Streitschrift einzugehen. Herr Lütz greift tief in die verbale Skandalkiste, um so einen von ihm wahrgenommenen Missstand an die große Glocke hängen zu können. Was also bringt er vor und was daran ist substanziell?

1. Die skandalisierende Sprache

Es ist schon ungewöhnlich, dass ein (Mit-)Vertreter des Faches Psychotherapie den gegenwärtigen Zustand der Versorgung derart negativ zeichnet: Selbst, wenn damit tatsächliche Missstände aufgezeigt würden, würde Herr Lütz sich zu schriller Töne bedienen: er skandalisiert und setzt sprachlich herab und beschuldigt heftig.

Hier einige markante Beispiele für diese unangemessenen Ausdrucksformen in Zitaten: ein kaputtes System / eine Schande für ein zivilisiertes Land / Zusammenbruch der ambulanten psychiatrisch-psychotherapeutischen Versorgung / das System fördert die Behandlung von Gesunden / das Psychotherapiesystem – ein Selbstbedienungsladen / 1,5 Millionen Psychotherapiepatienten ein Millionengeschäft / hemmungslos die Öffentlichkeit manipuliert / keine Skrupel, einfach Patienten einzuspannen / dreist behaupten, in Deutschland werde zur hohen Zufriedenheit der Patienten behandelt / höchst subtile Lobbyarbeit / Opfer der zynischen Kampagne / die Öffentlichkeit wird manipuliert.

Es liest sich, als sei die Versorgung grottenschlecht, unlautere Machtspiele (der BPtK) hielten das vermeintliche Elend am Laufen, seien für dieses verantwortlich: Das ‚System‘ als ein Ort der Niedertracht. Dies steht in seltsamem Kontrast dazu, dass wir, nach überwiegender Meinung von Experten und Politikern, im Vergleich zu anderen Ländern eines der besten Versorgungssysteme haben. Herr Lütz müsste daher all diese Behauptungen Lügen strafen, um sich nicht dem Vorwurf auszusetzen, mit seinem öffentlichen Verriss schädlich zu handeln. Bei einer Patientin kam schon die bange Frage auf, ob sie denn auch zu den Nicht- Behandlungsbedürftigen zu zählen sei – seine verallgemeinernden Aussagen zeigen bereits Wirkung.

2. Alles undifferenziert in einen Topf: Die Anprangerung des „Systems“, wobei die unterschiedlichen Systeme nicht differenziert abgehandelt werden

Beginnen wir mit seinem Beispiel zu Beginn des Artikels von der schwer depressiven Patientin, die vergeblich einen Psychotherapeuten suchte: Entweder hatte es der Patientin niemand gesagt oder es ist ein Beispiel aus der Vergangenheit. Über die Terminservicestelle wären ein Vorstellungstermin und eine Akuttherapie innerhalb von 4 Wochen möglich gewesen. Aber noch etwas Anderes macht stutzig: Mehrere Wochen intensiver stationärer Behandlung waren zur Besserung erforderlich- möglicherweise mit kräftiger Unterstützung von Antidepressiva; könnte es da sein, dass auch zuvor schon eine stationäre Aufnahme oder eine medikamentöse Behandlung durch einen Psychiater notwendig gewesen wäre? Das bedeutet: Ging es da vordringlich um einen Psychotherapieplatz?

Nur nebenbei: Dass er vor 30 Jahren in drei Tagen einen Psychotherapietermin bekommen hätte, kann bei der damals noch kleinen Anzahl zugelassener Psychotherapeuten nur auf die seinerzeit noch hohen Barrieren zurückgeführt werden, sich einer Therapie zu unterziehen bzw. zu einer Psychotherapie zu überweisen. Das müsste doch auch dem Autor eingefallen sein.

Wirft das Eingangsbeispiel schon Fragen auf, so zeigen die folgenden Absätze, wie Systeme und Zusammenhänge übergangslos und ununterscheidbar aneinandergereiht und damit vermischt werden:

Im zweiten Absatz beklagt er die psychiatrisch-psychotherapeutische Versorgung: Da fehlt es nun tatsächlich an niedergelassenen Fachärzten, sodass die wenigen oft nur Minutengespräche anbieten können, ein Missstand, der nun aber mit den Psychotherapeuten und deren Kammer rein gar nichts zu tun hat. Dieser Missstand hätte sich durch die der Psychotherapie vorgeschaltete Steuerungsinstanz, wie ursprünglich im TSVG vorgesehen, nur noch verschlechtert – so jedenfalls auch die Meinung der psychiatrischen Berufsverbände, die es wissen müssen.

Im dritten Absatz schildert er – ohne es klar kenntlich zu machen – Behandlungen in Kliniken (die meistens unter psychiatrischer oder psychosomatischer Leitung und außerhalb des Einflussbereichs der BPtK stehen), nach der Kurzcharakterisierung (gestresste, wassertretende Manager) ganz offensichtlich sogar in Privatkliniken, die nun mit der ambulanten GKV-Versorgung gar nichts zu tun haben. (Diese Fehlverknüpfung wurde bemerkenswerterweise in vergleichbarer Form mit gleicher Vorwurfsabsicht vor Jahren schon von Dr. Heiner Melchinger vorgebracht – ein Hinweis auf Kooperation?). Diese kritischen Ausführungen werden dann in einer Art Collagetechnik der ambulanten Versorgung ‚angehängt‘. So wird der Eindruck erweckt, dass die Ausführungen zuvor seine unhaltbaren Schlussfolgerungen untermauern könnten. Und nur mittels dieser unsachgemäßen Verknüpfung kann behauptet werden, die 1,5 Millionen Psychotherapiepatienten seien ein Milliardengeschäft. Ihm entgeht bei dem Furor, dass er die Psychologischen Psychotherapeuten, denen er einen Absatz weiter unten bescheinigt: sie „machen eine ausgezeichnete Arbeit, und die weitaus meisten behandeln natürlich wirklich Kranke“, hier gleichzeitig als Geschäftemacher hinstellt, die am liebsten Nichtkranke behandelten, wobei deren Patienten niemand daraufhin kontrolliere, ob sie tatsächlich krank seien oder nicht. Und er behauptet gleichzeitig, das System sei ein Selbstbedienungsladen – verstehe diesen Widerspruch, wer wolle.

Erst der 4. Absatz lässt sich sicher auf die ambulante Psychotherapie beziehen. Die Logik des Autors ist bestechend, wenn er ausführt: a. „für die wirklich Kranken gibt es keine Therapieplätze mehr“ – und b. den Psychotherapeuten „ausgezeichnete Arbeit“ attestiert, und einräumt „die weitaus meisten behandeln natürlich wirklich Kranke“. Was denn nun?
Sollte der ganze Furor in sich zusammenfallen? Um die gerade ausgesprochene Wertschätzung gleich wieder zu negieren, fährt er suggestiv fort: „Fragen Sie sich doch selbst, was Sie tun würden, wenn Sie die freie Wahl hätten, für dasselbe Honorar einen schwer gestörten Menschen zu behandeln oder den gesunden Nachbarn, der aus
irgendwelchen Gründen Gesprächsbedarf hat.“ Nicht nur wird hier Psychotherapeuten pauschalisierend unterstellt, das menschliche Leid würde sie nicht anrühren und sie betrachteten ihren Beruf als Geschäft, eine wirklich monströse Unterstellung. Es zeugt auch von der völligen Unkenntnis darüber, was man als Psychotherapeut aushält: sieben
bis acht Stunden am Tag über Jahre hin Smalltalk mit den Nachbarn wären nur für Charaktergestörte auszuhalten.

Zusammenfassend bleibt festzustellen: Der einzige Absatz, der sich tatsächlich auf die ambulante Versorgung bezieht, besagt: dort werde meist wirklich ausgezeichnete Arbeit an wirklich Kranken geleistet, aber leider sei die Versorgung zum „Selbstbedienungsladen“ geworden, daher suchten sich Psychotherapeuten naturgemäß lieber die Gesunden aus. Was von beidem stimmt denn jetzt?

3. Die Behauptung:
Die Bundespsychotherapeutenkammer ist für die ganze vermeintliche Katastrophe – Zusammenbruch der Versorgung, für das Nichtstun etc. – verantwortlich zu machen

Erstaunt muss man feststellen, wofür die BPtK alles verantwortlich gemacht wird und wie verantwortungslos die Funktionäre sein sollen, die dort tätig sind. Man muss die ständige mediale Präsenz der BPtK nicht gut finden, man kann sich öfters auch wünschen, sie möge sich bei gewissen Themen mehr Zurückhaltung auferlegen, und man kann sich auch immer wieder mal darüber ärgern, dass in ihren Äußerungen eine einseitige Sichtweise
und fehlendes Gespür für den ärztlichen Teil der psychotherapeutischen Versorgung zum Ausdruck kommt. Aber die meisten Verlautbarungen sind nach meiner Meinung als Arzt und Nichtmitglied der BPtK seriös und der psychotherapeutischen Versorgung dienlich. Herr Lütz sieht das offensichtlich ganz anders:
Wer gegen diese – geradezu als allmächtig gezeichnete – Institution Kritik vorbringt, muss den Mut des Autors haben, weil denjenigen „ein Shitstorm erwartet“, und weil derjenige (so scherzhaft bemerkt) dann „am besten einen Sicherheitsdienst beauftragen“ sollte. Deren Funktionäre „manipulieren“ „hemmungslos die Öffentlichkeit“, „alle gehen vor deren Kampagnen in Deckung“ (man wüsste gern, wie diese Arbeitsgemeinschaft BPtK ohne Exekutivmacht so eine Macht entfalten können sollte). „Gegen jeden Reformversuch“ kämpft die BPtK „mit allen Mitteln“. Der Autor bleibt die Liste der vereitelten Reformversuche schuldig. Er zählt leider kein einziges Beispiel der Reformvereitelung auf, das von der BPtK initiiert worden wäre (s.u.: Faktencheck).